Zwei in Frankreich wohnende Schüler, die in Rheinland-Pfalz die weiterführende Schule besuchen, haben einen Rechtsanspruch auf Übernahme von Schülerbeförderungskosten für das Schuljahr 2015/2016. Dies hat das Verwaltungsgericht Neustadt a.d. Weinstraße in einem Urteil vom 22. Juni 2017 entschieden.

Die beiden im Januar 2000 bzw. im Oktober 2003 geborenen Kläger wohnen mit ihren Eltern, die wie sie deutsche Staatsangehörige sind, in Wissembourg/Frankreich. Seit dem Schuljahr 2010/2011 (Kläger zu 1) und seit dem Schuljahr 2013/2014 (Klägerin zu 2) besuchen sie die Realschule in Bad Bergzabern. Der Schulweg, den sie mit dem Bus zurücklegen, ist länger als 4 km.

In der Vergangenheit – nämlich bis zum Schuljahr 2014/2015 – übernahm der beklagte Landkreis die Fahrtkosten. Mit Bescheiden vom 16. Juni 2015 teilte er mit, dass eine weitere Übernahme dieser Kosten nicht mehr möglich sei, da nach § 69 des rheinland-pfälzischen Schulgesetzes (SchulG) die Schüler ihren Wohnsitz in Rheinland-Pfalz haben müssten.

Hiergegen haben die Kläger nach erfolgloser Durchführung eines Widerspruchsverfahrens im November 2016 Klage erhoben und geltend gemacht, die von dem Beklagten vertretene Rechtsauffassung stehe nicht in Einklang mit den Vorgaben des europäischen Rechts, wonach Grenzgänger nicht diskriminiert werden dürften. Der Vater der Kläger habe in den zurückliegenden Jahren als Grenzgänger mit Wohnsitz in Frankreich und Arbeitsstätte in Deutschland Abgaben an die Sozialversicherungsträger geleistet.

Die 2. Kammer des Gerichts hat der Klage mit folgender Begründung stattgegeben:

Der Anspruch der Kläger ergebe sich zwar nicht unmittelbar aus § 69 SchulG. Auch wenn der kürzeste nicht besonders gefährliche Fußweg zwischen der Wohnung der Kläger und der Realschule plus Bad Bergzabern länger als 4 km sei, fehle es an der weiteren Voraussetzung, dass die Schülerinnen und Schüler ihren Wohnsitz in Rheinland-Pfalz haben müssten. Die Kläger wohnten jedoch in Wissembourg/Frankreich, mithin nicht in Rheinland-Pfalz.

Gleichwohl sei der Beklagte zu verpflichten, die Schülerbeförderungskosten der Kläger für das Schuljahr 2015/2016 zu übernehmen. Dieser Anspruch ergebe sich aus der Vorschrift des Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union. Danach dürfe ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats sei, aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet des anderen Mitgliedstaates hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden sei, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer. Er genieße dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.

Zu der inhaltsgleichen Vorgängervorschrift habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Juni 2013 entschieden, diese Bestimmung sei dahin auszulegen, dass sie grundsätzlich einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehe, die die Gewährung einer finanziellen Studienbeihilfe von der Erfüllung eines Wohnsitzerfordernisses durch den Studierenden abhängig mache und die zu einer eine mittelbare Diskriminierung darstellenden Ungleichbehandlung von in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässigen Personen und von Personen führe, die zwar nicht in diesem Mitgliedstaat ansässig, aber Kinder von Grenzgängern seien, die in diesem Mitgliedstaat eine Tätigkeit ausübten.

Diese Entscheidung  sei auf den vorliegenden Fall übertragbar. Die Kläger, die in Frankreich wohnten, seien von der Leistung des § 69 SchulG nur deshalb ausgeschlossen, weil sie ihren Wohnsitz nicht in Rheinland-Pfalz hätten. Die Übernahme der Schülerbeförderungskosten durch den Beklagten nach § 69 SchulG stelle auch eine soziale Vergünstigung für Arbeitnehmer i. S. v. Art. 7 Abs. 2 der Verordnung(EU) Nr. 492/2011 dar, denn sie werde zur Bestreitung des Lebensunterhalts der Schülerinnen und Schüler während des Schulbesuchs gewährt und entlaste damit die unterhaltspflichtigen Eltern. Da die Kostenübernahme gegenüber den Schülern und Schülerinnen erfolge, müssten auch sie sich auf diese Bestimmung der Verordnung berufen können, damit die beabsichtigte Entlastungswirkung bei ihren Eltern erzielt werden könne.

Unschädlich für den von den Klägern geltend gemachten Anspruch sei, dass sowohl sie als auch ihre Eltern deutsche Staatsangehörige seien. Die Eltern, die in Frankreich wohnten und in Deutschland arbeiteten, könnten sich auch als deutsche Staatsangehörige auf die Bestimmung des Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 berufen. Diese Bestimmung komme allen Grenzarbeitnehmern zugute, die ihre unselbständige Erwerbstätigkeit in dem Mitgliedstaat ausübten, um dessen Leistung es konkret gehe, die aber in einem anderen Mitgliedstaat wohnten. Der Einzelne könne sich auch seinem eigenen Staat gegenüber auf das Freizügigkeitsrecht berufen, wenn ein Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat gegeben sei. Demgemäß könne ein deutscher Arbeitnehmer, der in Deutschland seinen Beruf ausübe, aber im benachbarten Ausland seinen Wohnsitz genommen habe, gegenüber dem deutschen Staat die unionsrechtliche Arbeitnehmerfreizügigkeit geltend machen. Für die Anwendung von Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 genüge es, dass ein Unionsbürger Arbeitnehmer sei und seine Situation durch ein grenzüberschreitendes Element gekennzeichnet sei.

Fehle demgegenüber ein Bezug zu einem anderen EU-Mitgliedstaat (z.B. bei einem Schüler, der eine rheinland-pfälzische Schule besuche und mit seinen Eltern in Baden-Württemberg wohne), könne es zu einer sog. Inländerdiskriminierung (umgekehrte Diskriminierung) kommen. Das sei weder aus der Sicht des innerstaatlichen Rechts noch aus der Sicht des Unionsrechts zu beanstanden.

Es sei auch kein legitimes Ziel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH erkennbar, das die Ungleichbehandlung von Grenzgängern bei der Gewährung von Schülerbeförderungskosten rechtfertigen könnte. Der in Betracht kommende Gesichtspunkt von Haushaltserwägungen vermöge die festgestellte Diskriminierung nicht zu rechtfertigen.

Gegen das Urteil ist inzwischen die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung zum Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in Koblenz eingelegt worden.

Verwaltungsgericht Neustadt, Urteil vom 22. Juni 2017 – 2 K 1054/16.NW –

Quelle: Pressemitteilung des VG Neustadt vom 22.06.2017